Goethe in Garbenheim

„Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen
ausspart; und mit mir darf werden, was will, so darf ich nicht
sagen, daß ich die Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht
genossen habe. – Du kennst mein Wahlheim; dort bin ich völlig
etabliert, von da habe ich nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort
fühl ich mich selbst und alles Glück, das dem Menschen gegeben
ist. –
Hätt ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner
Spaziergänge wählte, daß es so nah am Himmel läge!“

26. Mai
Ungefähr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie
Wahlheim nennen. Die Lage an einem Hügel ist sehr interessant,
und wenn man oben auf dem Fußpfade zum Dorf herausgeht,
übersieht man auf einmal das ganze Tal.
Eine gute Wirtin, die gefällig und munter in ihrem Alter ist,
schenkt Wein, Bier, Kaffee; und was über alles geht, sind zwei
Linden, die mit ihren ausgebreiteten Ästen den kleinen Platz vor
der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauernhäusern, Scheunen,
Höfen eingeschlossen ist.
So vertraulich. So heimlich hab ich nicht leicht ein Plätzchen
gefunden, und dahin lass ich mein Tischchen aus dem Wirtshaus
bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese
meinen Homer.
Das erstemal, als ich durch einen Zufall an einem schönen
Nachmittag unter die Linden kam, fand ich das Plätzchen so
einsam. Es war alles im Felde ; nur ein Knabe von ungefähr vier
Jahren saß an der Erde und hielt ein andere, etwa halbjähriges
Kind mit beiden Armen wider seine Brust, so dass er ihm zu einer
Art Sessel diente und ungeachtet der Munterkeit, womit er aus
seinen schwarzen Augen herumschaute, ganz ruhig saß.
Mich vergnügte der Anblick, ich setzte mich auf einen Pflug, der
gegenüber stand, und zeichnete die brüderliche Stellung mit
vielem Ergetzen.
Ich fügte den nächsten Zaun, ein Scheunentor und einige
gebrochene Wagenräder bei, alles, wie es hintereinander stand,
und fand nach Verlauf einer Stunde, dass ich eine wohlgeordnete,
sehr interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das Mindeste
von dem Meinen hinzuzutun.
Das bestärkte mich in meinem Vorsatze, mich künftig allein an die
Natur zu halten
……………………………………..

27. Mai
………….ich habe vergessen, dir auszuerzählen, was mit den
Kindern weiter geworden ist.
Ich saß ganz in malerische Empfindung vertieft, die dir mein
gestriges Blatt sehr zerstückt darlegt, auf meinem Pfluge wohl
zwei Stunden.
Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los, die
sich indes nicht gerührt hatten, mit einem Körbchen am Arm und
ruft von weitem:“Phillips, du bist recht brav.“ Sie grüßte mich, ich
dankte ihr, stand auf, trat näher hin und fragte sie, ob sie Mutter
von den Kindern wäre? Sie bejahte es, und indem sie dem ältesten
einen halben Weck gab, nahm sie das kleine auf und küsste es mit
aller mütterlicher Liebe. – „ich habe,“ sagte sie, „meinem Philipps
das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem Ältesten in die
Stadt gegangen, um weiß Brot zu holen und Zucker und ein Irden
Breipfännchen“.- Ich sah das alles in dem Korbe, dessen Deckel
abgefallen war.-
„Ich will meinem Hans (das war der Name des Jüngsten) ein
Süppchen kochen zum Abende; der lose Vogel, der Große, hat mir
gestern das Pfännchen zerbrochen, als er sich mit Phillipsen um
die Scharre des Breis zankte.“ – ich fragte nach dem Ältesten, und
sie hatte mir kaum gesagt, dass er sich auf der Wiese mit ein paar
Gänsen herumjage, als er gesprungen kam und dem zweiten eine
Haselgerte mitbrachte.
Ich unterhielt mich weiter mit dem Weibe und erfuhr, dass sie des
Schulmeisters Tochter sei, und dass ihr Mann eine Reise in die
Schweiz gemacht habe, um die Erbschaft eines Vetters zu holen. –
………………………………………….. Es ward mir schwer, mich von
dem Weibe los zu machen, gab jedem der Kinder einen Kreuzer,
und auch fürs jüngste gab ich ihr einen, ihm einen Weck zur
Suppe mitzubringen, wenn sie in die Stadt ginge und so schieden
wir voneinander.
…………………………………
Seit der Zeit bin ich oft draußen. Die Kinder sind ganz an mich
gewöhnt, sie kriegen Zucker, wenn ich Kaffee trinke, und teilen
uns Butterbrot und die saure Milch mit mir des Abends.
Sonntags fehlt ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nach der
Betstunde da bin, so hat die Wirtin Ordre, ihn auszuzahlen.
Sie sind vertraut, erzählen mir allerhand, und besonders ergetze
ich mich an ihren Leidenschaften und simplen Ausbrechen des
Begehrens, wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich versammeln.
Viele Mühe hat es mich gekostet, der Mutter ihre Besorgnis zu
nehmen, sie möchten den Herren inkommidieren.

30. Mai
…..muss es denn immer gebosselt sein, wenn wir teil an einer
Naturerscheinung nehmen sollen?
Wenn du auf diesen Eingang viel Hohes und Vornehmes
erwartest, so bist du wieder übel betrogen; es ist nichts als ein
Bauernbursch, der mich zu dieser lebhaften Teilnehmung
hingerissen hat. Ich werde, wie gewöhnlich, schlecht erzählen, und
du wirst mich, wie gewöhnlich, denk ich, übertrieben finden;
es ist wieder Wahlheim, und immer Wahlheim, das diese
Seltenheiten hervorbringt.
Es war eine Gesellschaft draussen unter den Linden, Kaffee zu
trinken. Weil sie mir nicht ganz anstand, so blieb ich unter einem
Vorwande zurück.
Ein Bauernbursch kam aus einem benachbarten Hause und
beschäftigte sich, an dem Pfluge, den ich neulich gezeichnet hatte,
etwas zurecht zu machen.
Da mir sein Wesen gefiel, redete ich ihn an, fragte nach seinen
Umständen, wir waren bald bekannt und, wie mir`s gewöhnlich
mit dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er erzählte mir, dass er
bei einer Witwe in Diensten sei und von ihr gar wohl gehalten sei.
Er sprach so vieles von ihr und lobte sie dergestalt, dass ich bald
merken konnte, er sei ihr mit Leib und Seele zugetan. Sie sei
nicht mehr jung, sagte er, sie sei von ihrem ersten Mann übel
gehalten worden, wolle nicht mehr heiraten und aus seiner
Erzählung leuchtete so merklich hervor, wie schön, wie reizend
sie für ihn sei, wie sehr er wünschte, dass sie ihn wählen möchte,
um das Andenken der Fehler ihres ersten Mannes auszulöschen,
dass ich Wort für Wort wiederholen müsste, um die reine
Neigung, die Liebe und Treue dieses Menschen anschaulich zu
machen.
Ja, ich müsste die Gabe des größten Dichters besitzen, um dir
zugleich den Ausdruck seiner Gebärden, die Harmonie seiner
Stimme, das heimliche Feuer seiner Blicke lebendig darstellen zu
können.
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21. Juni
Ich lebe so glückliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen ausspart;
und mit mir darf werden, was will, so darf ich nicht sagen, daß ich
die Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht genossen habe.

Du kennst mein Wahlheim; dort bin ich völlig etabliert, von da
habe ich nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fühl ich mich selbst
und alles Glück, das dem Menschen gegeben ist. –
Hätt ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner
Spaziergänge wählte, daß es so nah am Himmel läge!
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Es ist wunderbar: wie ich hierher kam und vom Hügel in das
schöne Tal schaute, wie es mich rings umher anzog, – dort das
Wäldchen! – ach könntest du dich in seine Schatten mischen! –
dort die Spitze des Berges! – ach könntest du von da die weite
Gegend überschauen! – die ineinander geketteten Hügel und
vertraulichen Täler! –
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Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach
meinem Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir meine
Zuckererbsen selbst pflücke, mich hinsetze, sie abfädle und
dazwischen in meinem Homer lese; wenn ich in der kleinen Küche
mir einen Topf wähle, mir Butter aussteche, Schoten ans Feuer
stelle, zudecke und mich dazusetze, sie manchmal
umzuschütteln,…………………
Wie wohl ist mir`s, dass mein Herz die simple, harmlose Wonne
des Menschen fühlen kann, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch
bringt, das er selbst gezogen…………………….seine Freude hatte,
alle in einem Augenblicke wieder mitgenießt.
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8. Juli
…….Wir waren nach Wahlheim gegangen. Die Frauenzimmer
fuhren hinaus, und während unserer Spaziergänge glaubte ich in
Lottens schwarzen Augen – ich bin ein Tor, verzeih`mir`s!
Du solltest sie sehen, diese Augen. –
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Zusammengestellt von Heike Grüner, Vorsitzende des Heimatvereins Garbenheim